I
Das Ehepaar hatte sie gesehen, als es auf Sommerfrische im Dorf war.
Der Mann besaß ein Damenbekleidungsgeschäft in Wien und beschäftigte zehn
Angestellte. Seine Frau gestaltete ihrem Gatten das Leben so, wie er es sich wünschte,
wenn er abends nach Hause kam und sich Ruhe und Erholung ausbat.
Julie, an die fünfzehn Jahre jung, lief wahrscheinlich, von der Heuernte
kommend, den Feldweg entlang.
Beim Kreuzstöckl, das von einer ausladenden Buche beschirmt wurde, könnten sie
sich das erste Mal begegnet sein.
Im Schatten des Baumes stand eine Holzbank, auf der sich die feinen Damen aus
der Großstadt von ihren Spaziergängen gerne ausruhten.
Julie könnte einen kurzen Blick auf sie geworfen haben. Die Haare verschwitzt
unter einem Tuch verborgen. Trotzig der Mund, mit leicht vorgeschobener
Unterlippe.
Sie hat keine Zeit, sich über so viel Feinheit zu wundern. Sie muss heim. Die
Mutter wartet schon mit einem Berg Wäsche, die im nahen Bach gewaschen werden
muss. Bald wird es regnen. Die Wäsche soll noch antrocknen.
Julie wird der Dame mehrmals auf diesen Wegen begegnet sein. Die Äcker meiner
Urgroßmutter lagen weit verstreut um den kleinen Hof. Einen Mann gab es keinen
mehr im Haus. Julies Vater war jung an einem Lungenleiden gestorben. Da war sie
fünf Jahre alt gewesen.
Den ganzen Sommer über musste sie morgens die Kühe auf die Weiden treiben und
gegen Abend wieder nach Hause holen.
Die Damen machten währenddessen ihren Schönheitsspaziergang. Die Luft strich so
lau und würzig von den Heumandeln her. Die Sonne stand schon tief und der helle
Spitzenschirm schützte vor der restlichen Sommerglut.
Wie heißt du, könnte sie an solch einem ausklingenden Tag gefragt worden sein.
Julie, wie der Sommer, aber mit langem i.
Gegen Ende der Saison klopften sie ans Hoftor.
Es ginge ihm gut bei ihnen, dem jungen Ding. Ein Esser weniger. Madame sei in
guter Hoffnung. Die Mutter solle es sich überlegen.
Und die Mutter, die das Ehepaar schon vom Vorjahr her kannte, überlegte nicht,
sondern stimmte sofort zu. Als hätte sie darauf gewartet, dass wenigstens ein
Kind aus der Armut befreit werde.
Die jüngere Schwester hilft packen. Sie lässt sie nicht mehr aus den Augen.
Immer berührt sie die Große. Lehnt sich abends an sie und sagt: Du fährst in
die große weite Welt. Nach Wien. Dort wird das Tor ins Leben aufgestoßen. Du
wirst den Kaiser sehen, in Parks spazieren gehen und ein schönes Gewand
anziehen. Dort schmeckt sogar die Luft anders.
Fanny, die Jüngere, hat rote Ohren bekommen. Julie schweigt.
Ich stehe im Türrahmen. Höre ihnen zu. Ich möchte Julie fragen, was sie jetzt
gerade fühlt. Suche in ihren Bewegungen nach einer Antwort. Aber ich höre nur
Fanny plappern. Ein wenig altklug, finde ich.
Julie, flüstere ich, als sie an mir vorbei geht. Sie bleibt stehen. Das Handgepäck
ist leicht.
Ach ja, seufzt sie und wendet den Blick lange nicht von ihrer Schwester.
Gabriele Pflug