Alltagsgeschichten


Durch ihre Finger glitten die Perlen des Rosenkranzes, während draußen der Tag in den Abend fiel.
„Schließ die Tür, Kind, damit die Engel nicht im Zug stehen. Ihre Kleider sind durchsichtig."

Sie war nicht mehr ganz klar im Kopf. Schon seit Monaten wiederholte sich die gleiche Handlung.
Manchmal legte sie Äpfel für die Heiligen auf das Fensterbrett.
Bekümmert stellte sie fest, dass sie kein Verlangen danach hatten.
Sie schluchzte herzzerreißend in ihr Ave Maria.

Daraufhin begannen mein Bruder und ich die Früchte noch spät abends aufzuessen und ließen die Apfelputze als Zeichen des Dankes liegen.
Ein seliges Lächeln der Tante war unser Lohn.
Die Anzahl der Äpfel verdoppelte sich. Ihre Freude über den Appetit der Heiligen überschlug sich regelrecht.

Ein schnelles Ende fand die Geschichte, als mein Bruder nachts eine schreckliche Bauchkolik erlitt und eilends ins Krankenhaus gebracht werden musste.

Kurze Zeit später starb sie im 95. Lebensjahr.
Statt eines Kruzifixes legte ich ihr einen Apfel in die gefalteten Hände.
 
Gabriele Pflug

Portraitskizze einer Unbekannten


Das Bild sehe ich nur kurz. Im Vorbeigehen. Es liegt, achtlos in einen Plastiksack gesteckt, zuoberst auf einem Packen Schwarzweiß-Photos.
Wahrscheinlich ist diese Aufnahme einige Jahre nach dem Krieg gemacht worden.
Es ist, als würde sie über meine Augen gezogen werden. In Zeitlupe.
Diese Weite, eine Wiese und ein Himmel. Dazwischen die junge Frau.
Es ist Frühling. Das Gras noch ermattet, gelblich gefärbt. Der lange Winter hat es in Mulden gedrückt.
Zwischen Himmel und Feld scheint ein mit einem Bleistift gezogener Strich zu verlaufen.
Eine leichte, leise Bewegung des Winds hat den Mantel zur Seite geschoben und gibt die Sicht auf eine schmale Taille und schöne Beine frei.
Sie trägt einen knielangen Rock, Seidenstrümpfe und festes Schuhwerk.
Lachend blickt sie in die Kamera und in diesem Ausdruck beginnt der Frühling anzuheben.
Wach und offen ist ihre gesamte Geste. Freude umspielt ihren Mund. Ein zarter Hunger, eine Gewissheit, dass alles zur Blüte kommen werde, versprechen ihre Lippen.
 
Gabriele Pflug

In Memoriam Monika Kafka


Wir trinken
den bitteren Saft aus der Abtei der Erinnerung
wo die Äbtissin den Gesang des Mondes in die Gärten
streut mit ruhiger Gebärde die Zeit
zum Stillstand bringt
und jedem Sterben
zur Auferstehung läutet
 
Gabriele Pflug

Baum, schönster


Baum/schönster aller Schönen/streifst für mich den Himmel/ reichst mir deine wortreichen Blätter/und bleibst hell/selbst in wacholderblauen Nächten/leuchtet dein grünes Licht/in meinen Schlaf.
 
Gabriele Pflug

gedankensplitter


wortlos wendet sich
das gedicht nach innen
wächst nun der buchstabe

Gabriele Pflug

Vergänglichkeit


Die Zeit geht ein und aus
so wie mein Atem Glas
beschlägt und trübt

Es wird nicht leichter mit den Wintern
bricht die Haut mehr und mehr
verschwimmen Stimmen aus der Nacht herüber

Im Zimmer rücke ich den Stuhl zurecht
und bücke mich nach einem Faden Licht
der durch den Türspalt rinnt
 
Gabriele Pflug