Alltagsgeschichten


Durch ihre Finger glitten die Perlen des Rosenkranzes, während draußen der Tag in den Abend fiel.
„Schließ die Tür, Kind, damit die Engel nicht im Zug stehen. Ihre Kleider sind durchsichtig."

Sie war nicht mehr ganz klar im Kopf. Schon seit Monaten wiederholte sich die gleiche Handlung.
Manchmal legte sie Äpfel für die Heiligen auf das Fensterbrett.
Bekümmert stellte sie fest, dass sie kein Verlangen danach hatten.
Sie schluchzte herzzerreißend in ihr Ave Maria.

Daraufhin begannen mein Bruder und ich die Früchte noch spät abends aufzuessen und ließen die Apfelputze als Zeichen des Dankes liegen.
Ein seliges Lächeln der Tante war unser Lohn.
Die Anzahl der Äpfel verdoppelte sich. Ihre Freude über den Appetit der Heiligen überschlug sich regelrecht.

Ein schnelles Ende fand die Geschichte, als mein Bruder nachts eine schreckliche Bauchkolik erlitt und eilends ins Krankenhaus gebracht werden musste.

Kurze Zeit später starb sie im 95. Lebensjahr.
Statt eines Kruzifixes legte ich ihr einen Apfel in die gefalteten Hände.
 
Gabriele Pflug

6 Kommentare:

  1. ein liebevoller text, der mich sehr angspricht. danke dir dafür.
    Ariane

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  2. Eine herrliche, zum Schmunzeln und Nachdenken anregende Geschichte.
    Liebe Grüße. Priska

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  3. Sachlichkeit, Melancholie, Romantik, Nachdenklichkeit, auch eine gewisse Leichtigkeit ...

    Erstaunlich, was bei dir alles zu Harmonie verschmilzt ...

    In herzlicher Verbundenheit
    Jorge D.R.

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  4. Eine schöne Miniatur in lyrischer Prosa!

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  5. eine wunderbare und nachdenkliche geschichte, liebe gabriele!
    alles liebe,
    deine diana

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  6. dass diese alltagsgeschichte so gut ankommt bei euch, macht mich fast verlegen.
    aber es spornt mich auch an, weiter zu schreiben.
    dafür danke ich euch ganz besonders!

    eure gabriele

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