JULIE/V

 
V

Nora, die gnädige Frau, lässt Julie mit dem Kind nicht mehr in den Park spazieren gehen.
Sie zittert unentwegt. Auf den Straßen herrscht der Pöbel. Angehörige fremder Nationen werden beschimpft und tätlich angegriffen.
Wien hat über Nacht seine Gemütlichkeit verloren, die feinen Damen tragen jetzt Pflegerinnenhauben, grübelt Julie.
Seine Gemütlichkeit, spotte ich. Julie zuckt mit den Schultern.
Sei still, du lebst in einer ganz anderen Zeit. Es steht dir nicht zu, mich zu belehren.

Julie hört von Entlassungen von Kinderfrauen in den bürgerlichen Haushalten.
Nora beruhigt. Julie atmet auf.
Nora verbietet jede Art von Nachrichten aus dem Krieg. Es reicht, was vom Trottoir herauf gebrüllt wird.

Julie fährt zu ihrer Schwester. Die Anreise dauert fast einen halben Tag. Sie hat nichts mit außer einem leeren Rucksack.
Sie hamstert Schweineschwarten, Erdäpfel, Rüben.
Am nächsten Morgen bricht sie zeitig auf.

Ihre Familie wartet schon. Sie kocht aus den Schwarten Knödel.
Nora fällt ihr um den Hals und weint.
Wir schaffen das, gnädige Frau, sagt Julie und fühlt sich unbesiegbar.
Doch der Hunger bleibt nicht ganz aus und auch die Kälte nicht.

Am Abend schleiche ich zu ihr in die Kammer.
Ich könnte das nicht, flüstere ich, um die anderen nicht zu wecken.
Julie zieht die Decke bis ans Kinn, man sieht die Atemfahnen.
Ich habe keine Zeit fürs Nachdenken. Diesen Luxus hast du. Ich hingegen sinniere darüber, wo ich Kohlen und Gemüse herbekomme. Es ist schon spät. Um vier Uhr muss ich aufstehen. Gute Nacht.


Gabriele Pflug

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