Die Mirzel


(aus: Eine einfache Geschichte)

„Spring“, ruft sie mir zu, schnappt ihren dunklen langen Rock, klemmt ihn geschickt zwischen die Knie und segelt gleich einem braunen Blättchen, das der Wind sanft emporgehoben hat, über den Bach.

Heiß lag der Mittag über Klam, die Straßen schienen sich zu bewegen, einzelne Staubwölkchen hingen wie schmutzige Vorhänge in der Luft, in denen sich die Sonnenstrahlen brachen.
Ich glaubte, die Bäume unter der unerträglichen Hitze seufzen zu hören.

Mirzel, klein, gebeugt, aber zäh, schien der heiße Tag nichts auszumachen.
Mit zwei Kühen und mir im Schlepptau strebte sie zielstrebig diesen Bach an.
Spring.
Den Klang ihrer Stimme habe ich immer noch im Ohr, auch wenn sie schon an die 30 Jahre tot ist.


Im Gegensatz zu ihren dunklen Schürzen hatte sie immer ein weißes Kopftuch auf. Es war im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden und der Zipfel schien gestärkt zu sein.
Wenn sie lachte, wippte er auf und ab, wie der Bürzel eines Schwans.

Gab sie mir einen Kuss, so kratzten mich ihre einzelnen, schwarzen Bartstoppeln und wenn ich merkte, dass es wieder mal so weit war, kicherte ich schon im Voraus und steckte meinen Kopf tiefer zur Brust.
Viel redete sie nicht, ihr fehlten die Zähne und mit zunehmendem Alter schienen sich ihre Lippen nach innen zu stülpen.
Wenn wir mit den zwei Kühen auf der Weide waren und uns auf ein schattiges Plätzchen unterhalb einer mächtigen Eiche zurückgezogen hatten, dann packte sie das Brot aus und begann daran stundenlang zu kauen.
Als ich Jahre später in der Schule von den Hornleisten der Rinder lernte, musste ich an sie denken. Sie saß neben mir wie eine wiederkäuende Kuh und schob den Brei von einer Backe zur anderen.

Sie war die Tochter armer kinderreicher Kleinhäusler, die gleich nach der Volksschule zu den benachbarten Bauern als Dirn arbeiten gehen musste.
Von einem zum andern geschickt, wo gerade viel Arbeit anfiel, wurde sie gebraucht. Nie wurde sie gefragt, sie wurde bestellt.
Rede nicht, arbeite, scheint das Erbe ihrer Eltern gewesen zu sein.
Ich kann mich nicht erinnern, sie einmal jammern gehört zu haben.
Was ich aber heute noch fühle, ist ihr Blick, der auf mir ruhte, die Augen, die beschützend über die Kühe, die Menschen und Wiesen glitten, auch der prüfende Blick in den Himmel, ob nicht ein Gewitter sich überraschend auftürmen würde, hatte immer etwas freundlich Gebendes.

Ihre letzte Bleibe fand sie bei einem Baumeister in Klam, der Schweine und 2 Kühe hielt, um die er und seine Frau sich weder kümmern wollten noch konnten.
Den Luxus, ein eigenes Zimmer zu bewohnen, hatte sie bis zu diesem Zeitpunkt nie gehabt, bei den Bauern hatte sie mit mehreren Dirnen das Zimmer teilen müssen.
In direkter Nachbarschaft zu meinen Eltern begann sehr bald eine Freundschaft zwischen ihr und meiner Mutter und sie weitete sich auch auf mich aus.
Wenn meine Eltern abends wegmussten, durfte ich bei ihr im Bett schlafen. Sie roch nach Heu und warmem Kuhfell.

Als der Baumeister starb und die Witwe nach Deutschland zurückging, endete auch ihre letzte dienende Stelle.
Sie bekam ein kleines Zimmer gegenüber der Kirche zur Verfügung gestellt. Dort lebte sie noch einige Jahre, stand mit dem Glockengeläut auf und schlurfte täglich auf einen Nachmittagsbesuch zu meiner Mutter.
Als es ihr nur noch schwer fiel, die steile Treppe von ihrer Kammer zur Haustüre zu gehen, brachte ich ihr, wenn ich am Wochenende zu Hause war, Kuchen und Kaffee. Meist lag sie im Bett, immer schmäler werdend, mit spitzem Gesicht und umgebundenem Kopftuch, gleich einem Vogel, dem die Flügel gestutzt worden waren.
Nach einem Schlaganfall kam sie ins Altersheim, wo sie nach kurzer Zeit verstarb.
Es war mitten im Winter, als sie begraben wurde. Der Totengräber musste schon in den frühen Morgenstunden die Schneemassen zur Seite schaufeln, ehe er unter enormer körperlicher Anstrengung den gefrorenen Boden aufbrechen konnte.
Zum Zeitpunkt des Begräbnisses schrieb ich gerade meine Klausur.

Wenn ich heute an sie denke, dann meine ich, sie mit flinken Füßen aus dem offenen Grab klettern zu sehen, wie sie anschließend flugs den Friedhofsplatz überquert und mit einem mächtigen Sprung über den Graben fliegt, der sich zwischen der Friedhofsmauer und dem angrenzenden Wald auftut.


Sie trägt ihr Haar offen.
 
Gabriele Pflug

10 Kommentare:

  1. dies ist wieder eines deiner wunderbaren portraits, so lebendig, so feinfühlig, einfach großartig.
    das letzte bild, wie sie mit wehenden haaren springt, ist ganz stark und bleibt als zartes gebilde vor meinem auge.
    sehr, sehr schön, meine liebe!!
    einen ganz lieben gruß und eine frische brise zu dir,
    deine diana

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  2. liebe Diana,
    du bist eine treue Begleiterin meines Schreibens! das weiß ich sehr zu schätzen!
    danke für deine immerwährende Schreibfreundschaft!
    deine Gabriele

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  3. Liebe Gabriele,
    heute Abend finde ich endlich die rechte Konzentration für Deinen Text - ein ganz wunderbares Portrait ist Dir da gelungen, wie Diana schon geschrieben hat. Ich mag es, wie Du den ganz einfachen Leuten die Aufmerksamkeit schenkst, die sie eigentlich schon längst verdient haben. Und ich freue mich über Wörter, die bei Dir (oder im Österreichischen?) noch etwas von ihrer alten Bedeutung haben, wie die "Dirn"! Lange gegrübelt habe ich über die "Mirzel" - und da ich nicht dumm bleiben will, frage ich jetzt einfach geradeheraus: ist das ein Name oder ein Appellativum? Und hat der Name/das Wort eine Bedeutung? - Und ich kann Diana auch darin nur beipflichten: Die offenen Haare sind ein ganz starkes Bild - es gibt der Mirzel die Freiheit, die sie in ihrem Magd-Dasein nie hat haben dürfen: ganz wunderbar! Aber auch das Changieren der Figurendarstellung zwischen Frau aus einfachen Verhältnissen, Mutterersatz, aber auch Naturwesen und irgendwie auch Zauberin (der Rock, der Sprung) - das ist ganz fantastisch!

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    1. liebe sabine,
      dass du dir so viele gedanken zu meiner einfachen geschichte gemacht hast, das freut mich gewaltig.
      der name Mirzel leitet sich von Maria ab und sie wurde, seit ich denken kann, immer so gerufen!

      danke für deine nimmermüden besuche!

      gabriele

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  4. Dein letzter Abschnitt ist so wunderschön als Erinnerung an eine Frau, die Dir lange lieb und vertraut war, liebe Gsbriele.
    Ich habe vor einigen Tagen schon mal versucht zu kommentieren und es klappte einfach nicht.
    Heute ist alles i.O. *lächel*
    Herzlichst Bruni

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    1. liebe bruni,
      hab dank für deine besuche.
      ich mag es, an meine kindheit zurückzudenken. es gab da ganz besondere menschen, die mir sehr gewogen waren.
      liebe grüße
      gabriele

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  5. Eine berührende Begegnung mit einer bemerkenswerter Frau, die das Leben verstanden zu haben scheint: das Menschliche, Widerstandsfähige, das Ermutigende ....

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    1. sie war immer da für mich! das ist etwas, was ich auch heute noch fühle!
      danke für deinen besuch und liebe grüße
      gabriele

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  6. so einfühlsam geschrieben, dass mir ist, als ob ich mirzel kennen würde, wenigstens ein wenig. sehr, sehr schön!

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    1. liebe ariane,
      wie freue ich mich, wenn ich von dir höre!
      danke und alles liebe für dich
      deine gabriele

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